Notkompetenz

Der Begriff der sog. “Notkompetenz” bezeichnet die Durchführung von lebensrettenden Invasivmaßnahmen durch nichtärztliches Rettungsdienstpersonal. Die Durchführung invasiv-medizinischer Maßnahmen ist grundsätzlich nur Ärztinnen und Ärzten vorbehalten, § 1 Abs. 2 HeilprG i.V.m. § 2 Abs. 1 BOÄ. Hierdurch stellt sich die Frage inwieweit sich das nichtärztliche Rettungsdienstpersonal strafbar macht, wenn es invasive Maßnahmen ergreift und welche zivilrechtlichen (Schadensersatz) und arbeitsrechtlichen (Abmahnung/Kündigung) Folgen das haben kann.

Invasive Maßnahmen (Venenpunktion mit einer Kanüle, Defibrillation, Medikamentengabe …) greifen in die physische Integrität des Patienten bzw. der Patientin ein. Ihre Vornahme stellt daher eine vorsätzliche Körperverletzung (§ 223 StGB) dar. Um eine strafrechtliche Verantwortlichkeit auszulösen, muss diese tatbestandliche Körperverletzung rechtswidrig sein. Das ist dann nicht der F all, wenn der Patient bzw. die Patientin wirksam in die Körperverletzung eingewilligt hat (§ 228 StGB) oder ein Fall des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) vorliegt.

Bei der Stellungnahme der Bundesärztekammer zur Notkompetenz und zur Delegation ärztlicher Leistungen im Rettungsdienst vom 16.10.1992 handelt es sich um Handlungsvorschläge, die keinen bindenden Charakter haben. Sie geben jedoch einen wichtigen Anhaltspunkt dafür, welche invasiven Maßnahmen aus Sicht der Ärzteschaft das Rettungsdienstpersonal in einer Notfallsituation durchführen darf. Bemerkenswert ist dabei, dass die Stellungnahme nur die Rettungsassistentin bzw. den Rettungsassistenten, nicht hingegen die Rettungshelferin bzw. den Rettungshelfer oder die Rettungssanitäterin bzw. den Rettungssanitäter erwähnt.

Hiernach kann die Rettungsassistentin bzw. der Rettungsassistent für den objektiv gegebenen Verstoß gegen den Arztvorbehalt zur Ausübung der Heilkunde den rechtfertigenden Notstand in Anspruch nehmen. Dabei setzt ein Handeln unter Berufung auf die Notkompetenz voraus, dass

  1. die Rettungsassistentin bzw. der Rettungsassistent am Notfallort auf sich alleine gestellt ist und rechtzeitige ärztliche Hilfe, etwa durch An- oder Nachforderung eines Notarztes bzw. einer Notärztin, nicht erreichbar ist,
  2. die Maßnahmen, die er aufgrund eigener Diagnosestellung und therapeutischer Entscheidungen durchführt, zur unmittelbaren Abwehr von Gefahren für das Leben oder die Gesundheit des Notfallpatienten bzw. der Notfallpatientin dringend erforderlich sind,
  3. das gleiche Ziel durch weniger einschneidende Maßnahmen nicht erreicht werden kann (Prinzip der Verhältnismäßigkeit bei der Wahl der Mittel) und
  4. die Hilfeleistung nach den besonderen Umständen des Einzelfalles für die Rettungsassistentin bzw. den Rettungsassistenten zumutbar ist.

Nach der Stellungnahme der Bundesärztekammer kann der Rettungsassistentin bzw. dem Rettungsassistenten beispielsweise die Intubation ohne Relaxantien, die Venenpunktion, die Applikation kristalloider Infusionen, die Applikation ausgewählter Medikamente sowie die Frühdefibrillation übertragen werden. Voraussetzung für die Durchführung dieser Maßnahmen durch die konkrete Rettungsassistentin bzw. den konkreten Rettungsassistenten ist, dass die getroffene Maßnahme erforderlich ist (d. h. eine Behandlung muss geboten sein und die gewählte Maßnahme das mildeste in Betracht kommende Mittel darstellen), dass die Rettungsassistentin bzw. der Rettungsassistent die betreffende Maßnahme erlernt hat und beherrscht sowie dass eine individuelle und regelmäßige Überprüfung durch eine Ärztin bzw. einen Arzt stattfindet, welche Maßnahmen die einzelne Rettungsassistentin bzw. der einzelne Rettungsassistent unter dem Aspekt der sicheren Durchführung übernehmen kann.